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erde

Webseite 2014
Fotografie, HTML, JavasScript


Stille Bäume. Trauernde Wälder.

Im April 2014 besichtige ich Verdun, wo vor 100 Jahren der Erste Weltkrieg wütete (1914 - 1918) und entsetzliches Leid und Zerstörung brachte. Für die nationalen Interessen der Mächtigen mussten Millionen Menschen sterben. Das weitläufige Gebiet, um das vor 100 Jahren in einem erbitterten Stellungskrieg gekämpft wurde, ist heute fast komplett mit wild wachsendem Wald bedeckt. Bei meinen Wanderungen begegne ich kaum einem Menschen. Auf Kies- und Asphaltwegen gehe ich kilometerweit durch die Laub- und Kieferwälder. Es ist Frühling, die Vögel singen, alles blüht. Bei genauem Hinsehen zeigen sich Huckel im Waldboden - Ergebnis der massiven Bombardierung. Der Boden ist noch heute voller Schadstoffe, das Grundwasser verseucht. Die Bäume wachsen trotzdem. Aus einer Erde, unter der tausende Soldaten begraben liegen. Es ist unaussprechlich und zutiefst unmenschlich, was hier geschah. Und doch ist dieser Ort präsent, mit seinen jungen Bäumen und seinem Frühlingswind in den jungen Blättern. Ich filme und fotografiere, ohne genau zu wissen, was ich festhalten will oder kann.

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Verdun, Caures-Wald, 1916

Zerschossener Wald, zwei armselige Worte. Ein Baum ist wie ein Mensch. Die Sonne bescheint ihn, er hat Wurzeln, die Wurzeln stecken in Erde, der Regen wässert sie, die Winde streichen über sein Geäst, er wächst, er stirbt, wir wissen wenig von seinem Wachsen und noch weniger von seinem Sterben. Dem Herbststurm neigt er sich wie seiner Erfüllung, aber es ist nicht der Tod, der kommt, sondern der sammelnde Schlaf des Winters.

Ein Wald ist ein Volk. Ein zerschossener Wald ist ein gemeucheltes Volk. Die gliedlosen Stümpfe stehen schwarz im Tag, und auch die erbarmende Nacht verhüllt sie nicht, selbst die Winde streichen fremd über sie hinweg. Durch einen dieser zerschossenen Wälder, die überall in Europa verwesen, den Priesterwald, ziehen sich die Schützengräben der Franzosen und der Deutschen. Wir liegen so nahe beieinander, daß wir, steckten wir die Köpfe aus den Gräben, miteinander sprechen könnten, ohne unsere Stimme zu erheben.

Wir schlafen aneinandergekauert in schlammigen Unterständen, von den Wänden rinnt Wasser, an unserem Brot nagen die Ratten, an unserem Schlaf der Krieg und die Heimat. Heute sind wir zehn Mann, morgen acht, zwei haben Granaten zerfleischt. Wir begraben unsere Toten nicht. Wir setzen sie in die kleinen Nischen, die in die Grabenwand geschachtet sind für uns zum Ausruhen. Wenn ich geduckt durch den Graben schleiche, weiß ich nicht, ob ich an einem Toten oder einem Lebenden vorübergehe. Hier haben Leichen und Lebende die gleichen graugelben Gesichter.

Ernst Toller "Eine Jugend in Deutschland"
erde Verdun, Caures-Wald, 1916

Ich erinnere mich, daß manche alte Bäume - große, alte Bäume - unterhalb der Krone von einer Granate getroffen waren. Die ganze Krone war heruntergefallen und der Stamm blätterte oben auseinander und sah etwa wie eine Palme aus. Das waren natürlich alles Eindrücke, die mir unvergeßlich sind.

K. O., geb. 1896, aus "Zeitzeugen des Ersten Weltkriegs erinnern sich"

Der Wald war vollkommen vertrocknet. Das waren alles Kiefern, vielleicht 20 Jahre alt. Es hatte dort Gasangriffe gegeben. Die Bäume waren nicht zerschossen, sie waren nur vergiftet.

Paul Krüger, geb. 1899, aus "Zeitzeugen des Ersten Weltkriegs erinnern sich"
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Verdun, 2014

Seit der Neuanpflanzung nach dem Krieg ist der Wald weitgehend unberührt gewachsen. Wie ein großes, organisches Wesen umgibt er den ganzen Ort mit seinen stillen, in der Erde verwurzelten Bäumen. Seit dem Krieg ist dieser Wald das einzige Lebewesen, das an diesem Ort ausharrt und Erinnerung, Trauer und Leben zugleich zeigt. In der Leere und Verlassenheit, die der Ort ausstrahlt, sind es häufig die Bäume, die auf ihre Weise sprechen: Einer wirft seine Zweige in alle Richtungen, ein anderer beugt sich bis zur Erde, weiter hinten steht eine Gruppe eng zusammen.

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Verdun, 2014

Hinter den Bildern

Später schaue ich die Fotografien durch - wähle aus, was der entrückten Atmosphäre nahekommt. Es sind meistens die "sprechenden Bäume" die ich auswähle. Hinter der Oberfläche des Waldes liegt etwas verborgen - diesem Gedanken folgend beginne ich die Fotos in eine Webseite einzubetten. Auch die Fotos besitzen eine visuelle Oberfläche, ihr Inhalt aber ist digital. Eine Fotografie am Bildschirm ist das Abbild von Daten - so wie der optische Eindruck auf der Netzhaut nur das Abbild von Dingen ist und allem, was vielleicht diese Dinge in sich tragen - nennen wir es Dasein.

Dies ist der Ausgangsgedanke der Programmierung, bei der ich damit experimentiere, die Bilddateien auf binärer Ebene zu verändern. Die Daten werden übersetzt in Base64-Code, der näher zur Maschinensprache ist, dann in ASCII-Zeichen. Auf dieser Ebene sind die Bilddaten eine Abfolge von Zahlen, Zeichen und Buchstaben. Hier verändere ich an zufälligen Stellen die Bilddaten: Vertauschte Zeichen, füge Wörter ein. Ein JavaScript-Code führt diese Änderungen durch. Sie haben natürlich rein technisch gesehen nichts in den Bilddaten verloren: Sie bringen den Bildcode durcheinander, verschieben Pixel, verändern Farben. Das veränderte Bild wird vom Browser trotzdem angezeigt: Es sind schließlich nur Daten, die als Bild interpretiert werden, "falsche Daten" gibt es nicht. Dieser Vorgang ist "riskant": mit voranschreitender Veränderung sind die Daten irgendwann nicht mehr anzeigbar. Der Code bricht an dieser Stelle ab und lädt ein neues Bild.

Das ist also das Bild, das auch jetzt gerade in Echtzeit ganz oben auf der Seite berechnet wird: Es entsteht immer wieder neu und immer einzigartig im ausführenden Browser. Es besteht nur für einige Momente, dann verschwindet es vom Bildschirm und seine Daten - wenn man so will: das Original - aus dem Arbeitsspeicher.

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Installationsanordnung im Rahmen der Ausstellung 'bildweltkrieg' im Stadtmuseum Neuötting, 2014

Sprache

Während der Arbeit an dem Projekt - zwischen Erinnerung, Empfindung, Konzept und Programmierung - gesellt sich eine neue Ausdrucksmöglichkeit: Die Sprache. So entnehme ich die Worte, die den Bilddaten hinzugefügt werden, einem Gedicht, an dem ich im Laufe der Arbeit immer wieder arbeite. Und auch der Code ist "sprechend": Variablen, Funktionsnamen und Kommentare erlauben mir für technische Ereignisse poetische Namen zu wählen. Da der Programmcode zwangsläufig den Schritten der Bildänderung folgt, läuft er in abstrakter Weise parallel zu meiner ursprünglichen Suche nach dem Unaussprechlichen: Wahrnehmung - Dekonstruktion - Veränderung - Anzeige.

So wird die Programmsprache zur lyrischen Sprache, der Code zur Suche. In der Auseinandersetzung damit versuche ich der Unbegreiflichkeit Verduns näher zu kommen - darum ist der Code nicht nur Mittel, sondern Herz dieses Werks:

<script> var stimme = new Array( "allein","auf","diesem","weg", "auf","dem","die","erinnerung","verflog", "auf","dem","nun","nichts","mehr","ist", "weine","nicht", "um","das","verwehen", "um","das","weiterleben", "das","wasser","ist", "am","selben","ort", "weitergeflossen") function sehen(){ // und doch nicht sehen var grenze = 2000*14 var anfang = grenze+Math.floor(Math.random()*(wachsen.length-(2*grenze))) if(Math.random()<0.5){ var vergessen = wachsen.slice(anfang, anfang+1914) var nach=wachsen.charAt(Math.floor(Math.random()*wachsen.length)) var und_nach=wachsen.charAt(Math.floor(Math.random()*wachsen.length)) vergessen = replaceAll(nach, und_nach, vergessen) wachsen = wachsen.splice(anfang, vergessen.length, vergessen) } var anfang = grenze+Math.floor(Math.random()*(wachsen.length-(2*grenze))) var wort = stimme[Math.floor(Math.random()*(stimme.length-1))] var aus_einem = anfang wachsen = wachsen.splice(aus_einem, wort.length, wort) document.getElementById("stimme").innerHTML=wachsen.slice(wachsen.length-grenze, wachsen.length) erde=in_der_wir(wachsen) erde = 'data:image/jpeg;base64,' + erde bild.src=erde weit_und_hoch(bild) } var erde var erinnere_dich // an die var stille="und dunkelheit" var langsam var wachsen var leben function verloren(){ // durch var zufall = Math.floor(Math.random()*39)+1 // es bleibt allein dessen bild.src = "erde/" + zufall + ".jpg" // versunken in_die_stille(bild.src) setTimeout(function() { erde = stille.slice(23,stille.length) wachsen = aus_der(erde) }, 1111) langsam = setTimeout(function() { erinnere_dich = setInterval(function(){ /** geschnitten in pixel in der binären unschärfe ein wiederholendes **/ sehen() },1914) }, 2014) // nur ständige entscheidung für das leben = setTimeout(function() { clearInterval(erinnere_dich) // was haben wir verloren() // ? }, 62175) } // mutter meines feindes // heimat meines grabens // bäume meiner lungen // erde meines herzens // komm und lege dich um mich // über mich // umschließe mich // wir haben uns verloren() </script>
erde erde erde erde erde erde erde erde erde erde erde erde erde erde

Screenshots "erde"
Unique prints on aluminum plate, 20x30
mail [at] stimmeohnestimme.de